Vor langer langer Zeit, da herrschte hoch oben in jenem
Gebirge, das man Kapals Tränen nennt, der Zwergenkönig
Drungosch über sein Zwergenvolk. Das Reich war
nicht groß, aber die Zwerge waren fleißig
und schürften im Inneren der Berge nach Gold, Silber
und Edelsteinen, so dass das kleine Volk ob seines Reichtums
sehr berühmt, der König bei manchen sogar
beneidet war. Doch nicht nur für diese Dinge war
Drungosch bekannt: Inmitten seines kleines Reiches lag,
umgeben von grauen Felsen, der wunderschöne Rosengarten
des Königs.
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Eines Tages
begab es sich, dass der Baron am Balladir seine bezaubernde
Tochter Sigrun vermählen wollte. Alle Adeligen
aus der Umgebung wurden zum Ellyrisfest im Frühjahr
eingeladen, um an einer Fahrt auf dem Fluss teilzunehmen
und beim Baron, dessen Tochter und ihrem Verlobten zu
weilen. An den wiederergrünenden Ufern des Balladir
sollte nach der Fahrt eine Feier stattfinden. Nur König
Drungosch erhielt keine Einladung. Als dieser von der
Feier hörte, war er sehr zornig auf die Menschen.
Und so beschloss er, als unsichtbarer Gast an den Feierlichkeiten
teilzunehmen, denn neben seinen Schätzen besaß
er auch einige Gegenstände, die seine Ahnen einst
von mächtigen Zauberern erworben hatten. Und unter
diesen Schätzen befand sich auch ein Mantel, der
dem Träger Unsichtbarkeit verlieh. Drungosch verließ,
eingehüllt in den Mantel, das Gebirge auf seinem
Pferd, und als er am Festplatz des Barons angekommen
war, war die Feier schon im vollen Gange. Drungosch
besah sich die Gäste, von niemandem bemerkt, und
er fand die Feier der Menschen recht langweilig. An
eine zwergische Feier reichte sie bei weitem nicht heran,
so urteilte er. Denn Zwerge verstünden zu feiern,
wie es Menschen selbst in Jahrhunderten nicht erlernen
würden. Und so schritt Drungosch weiter zwischen
den Gästen umher. Schließlich näherte
er sich dem Baron und dessen Tochter. Als er jedoch
Sigrun erblickte, da verliebte er sich sofort in ihr
schönes Antlitz. Je länger die Feier währte,
umso mehr war es um das Herz des Zwergenkönigs
geschehen. Er konnte es nicht etragen, dass Sigrun bald
einen anderen ehelichen sollte, und so wartete er einen
Moment ab, als die Tochter des Barons unbeobachtet war
und entführte diese kurzerhand. Drungosch setzte
sie auf sein Pferd und ritt mit ihr so schnell von dannen,
dass sein Mantel von seinen Schultern rutschte, und
so waren er und seine Tat enttarnt. Die Gäste waren
entsetzt, und so gelang Drungosch mit Sigrun die Flucht
in sein Zwergenreich. Alsbald jedoch zogen
Sigruns Verlobter und dessen Ritter aus, um die Versprochene
zurückzuholen, und so drangen sie in das Zwergenreich
ein. Schon bald standen sie vor dem Rosengarten des
Königs. Da band sich König Drungosch seinen
Wundergürtel um, ein weiterer mächtiger Schatz
seiner Ahnen, der ihm die Kraft von zwölf Männern
verlieh und stellte sich dem Kampf. Der Kampf währte
drei Tage und Nächte. Die Ritter jedoch kämpften
sehr tapfer, und als der König sah, dass er trotz
allem ins Hintertreffen geriet, da zog er seinen Tarnmantel
über und sprang, unsichtbar wie er nun zu sein
glaubte, im Rosengarten hin und her, um so seinen Gegnern
zu entrinnen. Die Ritter indes, nach einem kurzen Augenblick
des Erstaunens, erkannten an den Bewegungen der Rosen,
wo der Zwergenkönig sich verbarg. Und so packten
sie ihn, zerbrachen den Zaubergürtel und führten
den König in Gefangenschaft. Drungosch, erzürnt
über sein Schicksal, drehte sich um und belegte
seinen einstmals geliebten Rosengarten, der ihn verraten
hatte, mit einem Fluch: Weder bei Tag noch bei Nacht
sollte jemals mehr ein Menschenauge die wunderbaren
Farben schauen, und so verwandelte sich der Rosengarten
zu Fels und Stein. Vom Zwergenkönig, seinem Reich
und seinen Schätzen und hörte man nie wieder
etwas. Eines jedoch hatte König Drungosch
nicht bedacht: An Tag und Nacht hatte er gedacht, die
Dämmerung allerdings hatte er vergessen. Und so
kommt es, dass an manchen Tagen der verzauberte Garten
seine blühenden Rosen in ihren schönsten Farben
erstrahlen lässt, auch heute noch, für kurze
Augenblicke nur, wenn man in der Dämmerung hinauf
zu jenem Gebirge blickt, das man Kapals Tränen
nennt. |